Der Geist Europas

„Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für alle.“ Mit diesem Wortlaut brachte Konrad Adenauer das dringliche Erfordernis auf den Punkt, Europa zu einen und damit unter seinen Völkern ein für allemal Frieden zu stiften, hatten doch die Terrorregime des 20. Jahrhunderts vor allem Europa zum Blutgerüst ihrer Kriege und Verheerungen gemacht. Europa musste innerlich befriedet und nach außen eine handlungsfähige Einheit werden und nicht zuletzt –das zeigte sich während des kalten Krieges- der Suprematie der Flügelmächte Amerika und Russland entrissen werden, um nicht als Spielball fremder Interessen missbraucht oder durch innere Zwietracht gespalten zu werden. Den großen Hegemonialmächten musste gerade in einer wieder multipolar werdenden Welt ein wirtschaftlich starkes und politisch geeintes Europa als Gegengewicht die Waage halten, denn vereinzelte, auf ihre eigenen Kräfte zurückgeworfene Nationalstaaten könnten auf der Bühne der Weltpolitik nur schwerlich ihre Stimme erheben und ihre Interessen durchsetzen. Und in der Tat: Der Nationalstaat, sei er auch die denkbar stabilste und Demokratie am besten ermöglichende Form der politischen Organisation eines Volkes- scheint oftmals zu klein, um globalen Problemstellungen zu begegnen, beispielsweise bei ökologischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Herausforderungen im Weltmaßstab, denen Europa mit einer einheitlichen Stimme antworten muss.

Folgerichtig hat man also in einem ersten Schritt, den besonders Deutschland und Frankreich als Motor dieser Entwicklung forciert haben, die EG als eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet, die allen Mitgliedern ökonomische Vorteile verschaffte und den Wohlstand ihrer Länder prosperieren ließ. Wenn wir jedoch heute die Europäische Union betrachten, ist weit mehr als nur eine Kooperation auf wirtschaftlicher Ebene institutionalisiert worden, man hat auch Länder aufgenommen, die über einen innereuropäischen Länderfinanzausgleich die reicheren schröpfen und mehr Ballast als Gewinn bedeuten, man hat den Mitgliedsstaaten ihre Währungshoheit entrissen und strebt immer mehr nach einem europäischen Bundesstaat, der die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten sukzessive abbaut, die Völker entmündigt und in Form einer abgehobenen, unter erheblichen Demokratiedefiziten leidenden Bürokratie eine Reglementierungswut losgetreten hat, die ihresgleichen sucht. Dass es, wo es kein europäisches Staatsvolk gibt, auch keine auf Volkssouveränität basierende Demokratie im Rahmen eines europäischen Superstaates geben kann, wird von den Eurokraten beflissentlich ignoriert, genauso wie der Volkswille der europäischen Nationen, der dahingehend tendiert, die Europäische Union in ihrer jetzigen Form abzulehnen, was die geringe Beteiligung an den Europawahlen oder die Ablehnung des Lissabonvertrags durch die Iren dokumentieren. Neuerdings fragt man das Volk aber gar nicht erst, sondern peitscht die EU-Verfassung einfach von oben durch.

Die Selbstentmachtung der nationalen Parlamente, die Übertragung von Souveränitätsrechten und Kompetenzen auf anonyme und undurchsichtige EU-Institutionen und Expertengremien, die jeder demokratischen Kontrolle und Tuchfühlung mit den Völkern entbehren,  und die steigenden Kosten der überbordenden Bürokratie und finanziellen Nivellierung sind aber nur die sichtbaren Symptome einer strukturell falsch aufgebauten EU, denn diese ist ein Europa ohne Seele und ohne Leben. Man hat es sträflich versäumt, Europa in erster Linie als Idee, als Kultur- und Wertegemeinschaft zu begreifen. Diese EU hat nichts zu tun mit der kulturellen Überlieferung des christlichen Abendlandes, in ihr sind keine europäischen Traditionen und Werte lebendig, sie erschöpft sich im Formellen und Administrativen oder kurz: Sie atmet keinen europäischen Geist. Doch was ist der Geist Europas?

Freilich lässt sich dieser Geist nicht in einem Begriff oder einer Ideologie einfangen, trotzdem steht er für eine Dynamik von Ideen und Idealen, die sich in ihren wandelnden Formen doch  selbst gleich blieben und Europa eine geistig-kulturelle Kontinuität verleihen, die gelegentlich als das „christliche Abendland“ bezeichnet wird, das von Karl dem Großen, nicht umsonst der „Pater Europae“ genannt, exemplarisch verkörpert wurde. Die grundlegenden Prägekräfte und Kernelemente dieses geistigen Europas sind der griechische Logos, das römische Recht und das christliche Menschenbild. Es ist tatsächlich so, dass gerade unsere modernen Errungenschaften und Werte, die den „Westen“ ausmachen, -Freiheit, Individualität, Humanität, Technik, Wissenschaft usw. – oftmals nichts Anderes sind als Transformationen, Säkularisationen und leider auch manchmal die Entleerungen der oben genannten kulturellen Sinnstruktur.

Diejenige Kultur, die Europa die Bahn seiner kulturellen und geistigen Entwicklung fundamental vorgezeichnet hat, war zweifelsohne die griechische. Im alten Athen wurde –mehr ungewollt und über verschiedene Stationen- die Demokratie erfunden. Solon, Kleisthenes und Perikles sind nur wenige Namen, die mit der demokratischen Verfassung Athens verknüpft sind, jedoch die bedeutendsten. Schon im 5. Jahrhundert v. Chr. war die Vergabe politischer Rechte nicht mehr an Herkunft und Vermögen gebunden, sondern alle Vollbürger waren politisch gleichberechtigt (Isonomia) und konnten direkt über Volksversammlung, Rat und Volksgerichte an der Politik partizipieren und die Geschicke der Polis mitbestimmen. In den Perserkriegen wurde diese neugewonnene Freiheit erfolgreich von den vereinten griechischen Hoplitenarmeen gegen die Herrscherdynastie der Achämeniden verteidigt, die ihre gewaltige Ländermasse nur durch Despotie und Zentralismus zusammenhalten konnten. Damit war der Weg zu einer freiheitlichen Gesellschafts- und Staatsform nachhaltig eingeschlagen und gesichert. In der Atmosphäre blühenden kulturellen Lebens und geistiger Freiheit konnten sich Eros und Logos zur griechischen Philosophie verbinden und die Paradigmen abendländischen Denkens ausbilden. Sokrates stellte seine berühmte Frage nach dem guten Leben und warf seine Gesprächspartner durch geschickt dialektische Gesprächskunst in die Verzweiflung des Nichtwissens, aber nur um sie hernach selber mit eigener Denkkraft zur Erkenntnis kommen zu lassen und sei es nur diejenige von der intellektuellen Bescheidenheit, nämlich, zu wissen, dass man eigentlich nicht weiß. Sein Schüler Platon sah das wahre Sein in den  unveränderlichen Ideen, von denen unsere Sinnenwelt nur ein blasser Abklatsch ist und zu denen mittels begrifflich-abstraktem Denken hinaufzusteigen Aufgabe der Wahrheitssuchenden ist. Dessen Schüler wiederum –Aristoteles- holte die Erkenntnis wieder auf den Boden der Sinnenwelt zurück, in der er die letzten Prinzipien und Ursachen des Seins zu finden versuchte, und begründete die wesentlichen Wissenschaften –Logik, Biologie, Physik, Ethik, Poetik und Staatslehre- von deren Früchten wir bis heute zehren.

Wie wir vom antiken Griechenland die Begriffe und Methoden des europäischen Geistes haben und vorgedacht bekamen, so verdanken wir die Idee von Recht und Rechtsstaatlichkeit vor allem dem antiken Rom. Nachdem der letzte König aus der Tiberstadt vertrieben worden war, installierte man eine republikanische Verfassung, die aufgrund sozialer Spannungen und Ständekämpfe bald ins Schlingern geriet. Unter diesem Druck beschlossen die Decemvirn, das geltende Gewohnheitsrecht aufzuschreiben und öffentlich auf Tafeln zur Schau zu stellen. Mit dieser Rechtskodifikation der Zwölftafelgesetze, die für das Bürgerliche Gesetzbuch und deutsche Grundgesetz Vorbildcharakter hatten, konnte der Willkür der Patrizier ein Ende gesetzt werden und auch den Plebejern war eine gewisse Rechtssicherheit garantiert. Nicht nur während der römischen Republik, sondern selbst noch in der Kaiserzeit mussten das Recht gewahrt, die Sitten von Zensoren überwacht und der mos maiorum der Vorfahren beachtet werden. Sinnbild für das Gewaltmonopol des Staates waren die Liktorenbündel (fasces), die den Magistraten vorangetragen wurden: Die Todesstrafe –gewissermaßen die ultima ratio der Staatsgewalt- wurde von einem Beil symbolisiert, das bezeichnenderweise nur außerhalb Roms im Rutenbündel steckte, denn jeder Bürger hatte gegen die Todesstrafe ein verbrieftes Appelationsrecht. Ganz entgegen der Instrumentalisierung dieses Symbols durch den Faschismus bedeutet es eben gerade auch die Beschränkung des staatlichen Gewaltmonopols durch Recht und Volk und schließt damit Herrscherwillkür aus. Die Gewaltenteilung und staatliche Machtbegrenzung werden schließlich schon von den Staatsorganen der römischen Republik, Volksversammlung, Senat und Magistrat, die die Kompetenzen und Verwaltungsaufgaben untereinander aufteilten, vorweggenommen. Bis heute halten wir es in dieser Tradition eines kohärenten Rechtssystems für notwendig, dass die Herrschenden bedingungslos an Recht und Verfassung gebunden und die Bürger durch unveräußerliche Rechte vor staatlicher Willkür geschützt sind.

Das letzte und in seiner Wirkmächtigkeit nicht zu unterschätzende Prägeelement Europas ist das christliche Menschenbild. Der Mensch ist im Christentum als Ebenbild Gottes geschaffen und bezieht daraus seine unveräußerliche Würde. Alle Menschen sind gleich, weil sie  gleichermaßen mit der Erbsünde belegt und zum Heilsweg befähigt sind, der Möglichkeit nach ist niemand von der Gnade Gottes ausgeschlossen. Als im Zuge der Reformation Luthers der Mensch unmittelbar und allein vor Gott steht, ist die Idee von der Individualität angedacht. Im Buch Genesis lesen wir, wie die ersten Menschen Adam und Eva sich verführen ließen, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen und dafür aus dem Paradies verbannt wurden. Ab diesem Punkt wird der Mensch, vor allem angesichts des Bösen in der Welt, als selbstbewusster, freier und eigenverantwortlicher gedacht, der Gutes und Böses erkennen und unterscheiden kann und die Willensfreiheit besitzt, sich für die eine oder die andere Option zu entscheiden. Er kann nun nicht mehr in natürlicher Unmittelbarkeit und kindlicher Unschuld verweilen, sondern er muss sich der Welt als souveräner Einzelner stellen und sich in die göttliche Schöpfungsordnung einfügen, indem er mittels seiner Vernunft seine Triebe und Instinkte beherrscht oder kanalisiert. Erbsünde und fleischlichen Versuchungen muss er stets zu entgehen versuchen und sich Geist und Askese zuwenden, welche –wie uns die Kulturanthropologie bis heute bestätigt- die Grundpfeiler jeder Kulturordnung sind. Auch Naturbeherrschung, Technik und die modernen Wissenschaften sind bereits in dem Imperativ des Dominium Terrae angedeutet, den Gott an Adam und Eva ergehen lässt: „Macht Euch die Erde untertan“ (Gen. 1,28). So ist nicht nur das animal rationale, sondern auch der homo faber auf das christliche Menschenbild zurückzuführen. Gleiches gilt für den homo oeconomicus: Der Kapitalismus hat sich nach Max Weber nämlich aus dem Kokon der protestantischen Ethik herausentwickelt. Die Calvinisten nahmen an, dass der Mensch zu Heil oder Verdammnis vorherbestimmt sei, was sich jeweils an Erfolg oder Misserfolg diesseitiger Arbeiten und Geschäfte zeige. Folgerichtig hatte der Mensch sparsam, enthaltsam und leistungsorientiert zu leben, Arbeit um des Erfolges willen wurde zentraler Lebenssinn, denn sie erschien als Gnadengarantie. Überspitzt gesagt, musste die göttliche Gnade also erarbeitet werden, deren sichtbares Zeichen erfolgreiche Kapitalakkumulation war. Schließlich sind die Ideale der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ allesamt im christlichen Menschenbild präformiert, die Freiheit als bewusste und zu verantwortende Entscheidungsfreiheit zwischen dem Guten und dem Bösen, die Gleichheit als Gleichheit aller Menschen in Wert und Würde aufgrund ihrer Gottesebenbildlichkeit und die Brüderlichkeit als Nächstenliebe und christliche Kardinaltugend der caritas. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass wir, sobald der Menschenwürde ihr christliches Fundament entzogen wird, in ernsthafte Begründungsnöte geraten.

Freilich existieren neben diesen drei Grundkonstanten des christlichen Abendlandes noch andere Prägekräfte, wie z.B. jüdische oder heidnische Traditionen, die von den dominanten Elementen verdrängt und deren alternative Kulturmöglichkeiten verschüttet wurden,  nichtsdestotrotz wurden sie oftmals absorbiert und wirkten subkutan fort. Auch die Aufklärung darf nicht vergessen werden, die im Philosophen Kant ihren Höhepunkt fand, letztlich aber doch auf den unausgesprochenen Voraussetzungen dieser Grundkonstanten beruhte. Die Selbstermächtigung und Selbstbefreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit setzt eben einen Menschen voraus, der neben der Sinnlichkeit auch an der Vernunft teilhat und sich durch sie selbst Gesetze geben kann, um seine Bestimmung, nämlich  Weltbürger einer intelligiblen Vernunftrepublik zu sein, erfüllen zu können. Dass ein solches Konzept ohne eine metaphysische, universale Rechtsordnung und eine gleichsam zum Gott erhobene Vernunft, die sich auf ihre Möglichkeiten und Grenzen selbst zu reflektieren imstande ist, kaum denkbar wäre, leuchtet schnell ein.

Nachdem nun das ideelle Grundgefüge, in dessen Spannungsfeld sich der Geist Europas bewegt und immer wieder erneuerte, kurz angedeutet wurde, muss darauf hingewiesen werden, dass dessen inhaltliche Ausbestimmung schwierig bis unmöglich scheint, denn immer wieder stellt sich die Frage, ob eine Idee für ganz Europa oder nur für eine seiner Nationen charakteristisch ist. Gerade Deutschland hatte ja dem „Westen“ oft protestlerisch seine Stirn geboten und Alternativen und neue Synthesen aufgezeigt, wie der Deutsche Idealismus oder die deutsche Romantik, was oft als Deutscher Sonderweg apostrophiert wurde. Und tatsächlich haben alle europäischen Nationen ihre Sonderwege und wesenhaften Eigentümlichkeiten und genau darin besteht die Form Europas, die auch wesentlich mit seinem Inhalt zusammenfällt: Das Europäische an Europa sind gerade seine Nationen, die es ausmachen und in ihrer Vielheit doch eine Einheit bilden. Das angemessene und ausgewogene Verhältnis zwischen Europa als Einheit und der Vielheit seiner Nationen zu finden, wird in Zukunft die entscheidende Herausforderung der Europäischen Union sein, die sich selbst nicht als reine Verwaltungsmaschine oder Sachwalterin ökonomischer und industrieller Interessen verstehen darf, sondern unter Rückbesinnung auf die Trias seiner eigenen Grundwerte – griechischer Logos, römische Rechtsidee und christliches Menschenbild- den Weg geistig-kultureller Selbstbehauptung gehen muss. Wenn es sich diesen nicht von einem Euromasochismus verstellen lässt, der unter Berufung auf Kolonialismus und Imperialismus der Vergangenheit Europa in moralische Schuldknechtschaft zu nehmen und ihm permanente Selbstgeißelung aufzuerlegen trachtet, werden sich auch politische Einigkeit, demokratische Mitbestimmung der europäischen Völker und ökonomische Prosperität Schritt für Schritt einstellen.

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